Hamburg, St. Pauli Stadion, 3. September 1983 Ida Ehre rezitiert "Sag Nein" von Wolfgang Borchert

Texte 1981 Ida Ehre “Sag nein!” Mutter Courage des Theaters

Theater heißt Leben für die große Ida Ehre (1900-1989). Sie braucht das Publikum wir die Luft zum Atmen – als Schauspielerin und als Regisseurin gleichermaßen. Mit ihren großen Rollen und Inszenierungen, unvergessen bis heute, schreibt sie Theatergeschichte wie kaum eine andere.

Schicksal ist für sie immer Herausforderung, noch als die Nazis die Jüdin zwölf Jahre mit Berufsverbot belegten. Auch daraus schöpft sie die Kraft für Neues. Ida Ehre will stets alles: als Geliebte, Ehefrau, Mutter, Intendantin und Akteurin. Ein ungeheurer Widerstandswille gibt ihr Stärke und Mut – bis ins hohe Alter. Und ihr Mut ist es auch, der sie so unsterblich macht.

von Verena Joos
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin


Vorwort

… Zwei Gesprächspartnern indes gilt mein besonderer Dank: der Dirigentin und Kulturpolitikerin Irmgard Schleier, Initiatorin der Bewegung »Künstler für den Frieden«, später des »Festivals der Frauen«, die das mir fast unbekannte Kapitel von Ida Ehres Engagement in jener Bewegung aufgeschlagen hat, das mittlerweile zu einem Lieblingskapitel geworden ist, und dem Intendanten des Theaters in Lüneburg, Jan Aust, lange Jahre ihr Chefdramaturg, Produktionsleiter, rechte Hand und enger Vertrauter, der mir mit seiner großen Sachkenntnis und seinem analytischen Verstand, seinem Humor und seiner Sorgfalt auch dem zunächst unbedeutend scheinenden Detail gegenüber unschätzbar wertvolle Aufschlüsse über die »Ära Ehre«, den Theateralltag und seine Sternstunden gegeben hat. Ohne diese beiden kompetenten, freundlichen und hilfsbereiten Zeitzeugen wäre dieses Buch ein Fragment geblieben …


18. Kapitel

»Sag nein!«

Künstler für den Frieden

Noch einmal, ein letztes Mal sei es uns vergönnt, das Rad der Zeit zurückzudrehen, um ein Terrain zu sichten, das für Ida Ehre in ihren späten Jahren eine große Wichtigkeit erlangte: ihr Engagement in der Initiative »Künstler für den Frieden«. Irmgard Schleier, der Initiatorin und, zusammen mit Peter Homann, Verantwortlichen für die künstlerische Struktur und den organisatorischen Ablauf jener eindrucksvollen Großveranstaltung im St.-Pauli-Stadion vom 3. und 4. September 1983, verdanke ich viel Erhellendes über die Wurzeln dieser Initiative, das künstlerische Konzept, die Beteiligten – und das Risiko, dem sich die Veranstalter und die tragenden Kräfte, die Künstler ausgesetzt sahen: »Es war eine Initiative von Künstlern, die sich nicht funktionalisieren lassen wollten, die innerhalb ihres Rahmens, innerhalb ihrer Profession ausloten wollten, was die Kunst an Bewußtseinsbildung ausrichten kann.

Aber natürlich gab es massive Zugriffe auf diese Initiative, zwischen dem Kommerz auf der einen und den moskautreuen Kommunisten auf der anderen Seite. Das hat auch Ida Ehre gespürt, die ich für eine Mitwirkung an dieser Veranstaltung zu gewinnen suchte. Einerseits war sie von der Unabhängigkeit des inhaltlichen Konzeptes voll überzeugt, andererseits fürchtete sie eine Fremdsteuerung‹, nicht zu Unrecht natürlich. Ihr wurde massiv abgeraten von der Teilnahme. Friedrich Schütter aber, ihr Kollege, der Intendant des Ernst-Deutsch-Theaters, des größten Privattheaters der Hansestadt, sagte seine Mitwirkung zu. Das war für sie eine Art Orientierung, eine Art Placet für ihre Teilnahme. Kurz vor der Veranstaltung wurde Friedrich Schütter krank …«

Ein gigantisches, seghsstündiges Programm ist es, das da an jeweils zwei Tagen im vollbesetzten St.-Pauli-Stadion, zum Schluß bei strömendem Regen, auf einer riesigen Bühne das Publikum in Atem hält: Es beginnt mit Kinder- und Kirchenchören, setzt sich fort mit einer Präsentation des städtischen Musiklebens, Chören und Solisten aus Südeuropa, Rußland und der dritten Welt, symbolisiert so ganz unaufdringlich die ästhetisch vorscheinhafte Potenz einer globalen Kulturbewegung.

Ein großes Orchester trotzt mit seinen Instrumenten der Unbill der sich zunehmend verschlechternden Witterung. Ein literarischer Teil mit Texten etwa von Heine und Mehring ist dem Ganzen dramaturgisch geschickt eingewoben. Künstler von der Durchschlagskraft einer Joan Baez, eines Harry Belafonte, André Heller, Wolf Biermann treten auf – und ganz zum Schluß, so hat es die Dramaturgie des Abends vorgesehen, soll Ida Ehres Part kommen. Ihr Lieblingstext, Wolfgang Borcherts »Sag nein! wird, so ist es mit ihr besprochen, diesen Abend resümierend beschließen, diesen großen Abend bei strömendem Regen und mittlerweile fast schon orkanartigem Sturm.

Irmgard Schleier, die im Off den Ablauf leitet, bleibt bis zum Schluß im ungewissen, ob die Prinzipalin sich, ohne die Rückendeckung ihres Freundes und Mitstreiters Friedrich Schütter, den Weg an die Rampe zumuten will und kann, und sie bietet ihr, als das Stichwort kommt, ihren Arm zur Begleitung an. »Mit den Worten Ich werde nicht begleitet, stieß sie meinen Arm weg und schritt allein ganz nach vorn. Und sprach ihren Text…«

Dann gibt es nur eins
Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen, sondern Stahlhelme und Maschinen-gewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Haßlieder singen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst die Männer kriegstauglich machen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Huangho und am Missis-sippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
[…]

Stefan Aust, darauf macht mich Irmgard Schleier aufmerksam, hat aus diesem sechsstündigen Abend einen Kinofilm hergestellt. Die Schlußsequenz habe ich gesehen: eine atemberaubende Demonstration schauspielerischer Sprechkultur – zum einen.

Aber noch viel mehr: Es ist die hohe Kunst, einem Text, der durch allzu häufiges Herbeizitieren abgenutzt schien, wieder die »Unschuld des Ursprungs« zu schenken, seine durch Mißbrauch an ihm haften gebliebene Plakativität rhetorisch »abzukratzen«, ihm seine Unmittelbarkeit und Nachdenklichkeit, seinen ganz persönlichen Leidensdruck und seine Würde zurückzugeben.

Dem refrainhaften »Sag nein!« ist oft genug, gerade auch zur hohen Zeit der Friedensbewegung, bei öffentlichen Deklamationen das Schicksal wiederfahren, in vordergründigem, wohlfeilem Einigkeitsgefühl kollektiv nachgeschmettert zu werden -, ohne daß das Gros der Zuhörer, immer schon auf seinen stimmlichen Einsatz konzentriert, die Feinziselierung dessen, was diesem Refrain jeweils vorausgeht, noch bereit gewesen wäre nachzuvollziehen. Ida Ehre hat die Nachschmetterer am Nach-schmettern gehindert: durch gedankliche Verzögerungen, durch reflexive Zäsuren, unerwartete Fermaten und Pausen, ebenso unerwartete Raffungen an anderen Stellen – erst ganz, ganz zum Schluß, wenn der Text als ganzer zum Blühen gekommen ist, ist sie bereit, dem kollektiven Neinsagen einmal Raum zu geben.
Ein Kantersieg – immerhin sind wir im St.-Pauli-Stadion, da muß dieses Bild schon mal erlaubt sein – für einen großen Text und eine große Interpretin gegen seine/gegen ihre politischen Einverleiber. Ein großer Moment an diesem Abend – und wohl auch ein großer Moment in Ida Ehres Leben.

Mit der Stationierung der Pershing-II-Raketen fällt diese große Bewegung in sich zusammen, die doch so erfolglos gar nicht gewesen ist, wie manche zu glauben scheinen, die sich jetzt lieber dem Showbusiness zuwenden: Hat sie doch, wie die Veranstaltung im St.-Pauli-Stadion eindrucksvoll beweist, auf künstlerischem Gebiet die West-Ost-Annäherung vorweggenommen, die erst Jahre später politische Realität werden soll.

Einige wenige indes tragen diese Idee, diese Initiative weiter: Irmgard Schleier, Peter Rühmkorf, Eva Mattes, der von Irmgard Schleier geleitete Chor »Hamburger Sängerhaufen«. Unter den Hartnäckigen ist auch Ida Ehre. »Es ist doch gegen so vieles zu schreien«, hat sie in ihrem letzten Interview mit Hans Joachim Fuchs für die Welt geäußert, »aber wo schreit einer?«, und, auf die Nachfrage, wogegen das Theater mehr schreien sollte, geantwortet: »Gegen den Krieg, für Freiheit, Toleranz und Verständnis. Heute herrscht eine solche Trägheit in den Herzen der Menschen, daß man weinen könnte.«

Sicher hat sie auch geweint – dann, wenn es keiner sah -, aber sie hat ihre Stimme erhoben bis zuletzt. Es waren allesamt Benefizauftritte, an denen sie beteiligt war. Sie hat es sich – wie die Initiatorin, Irmgard Schleier, auch – geleistet, hat es sich von Zeit abgeknappst, in der sie hätte Geld verdienen können, das dem verschuldeten Theater wieder zugute gekommen wäre.

»Sie hat sich eingemischt«, wird später der Titel eines Nachrufes in der Hamburger Rundschau lauten – und das ist ihr immer wichtig gewesen. Etwa am Abend des 30. Januar 1984 in der Kampnagel-Fabrik, zum 51. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers: »Widersteht, im Siegen Ungeübte«, ist, nach einer Gedichtzeile Peter Rühmkorfs, der Titel dieser literarisch-musi-kalischen Soiree. Ida Ehre rezitierte Gedichte von Brecht, Ingeborg Bachmann, Erich Kästner – und von Walter Mehring das 1934, schon »staatenlos im Nirgendwo«, entstandene »Ritual-märchen von den zwei Judenkindern«. Nein, das könne sie nicht sprechen, das gehe ihr zu nah, hat sie kurz zuvor noch Irmgard Schleier beschieden, die das Poem mit Bedacht für sie ausgesucht hat. Und dann tut sie es doch.

Ritualmärchen von den zwei Judenkindern

1.
Zwei Kindlein – krausgelockt – selband Gingen zum Metzger Hand in Hand.
Was soll’s denn sein? Ein Viertel Schwein?
Die Kinder sprachen traurig: Nein!
Soso! Wie heißt ihr denn, ihr Luder?
Ich heiße Esther, Sprach die Schwester.
Ich heiße Jakob
Sprach der Bruder.
Der Metzger grinste hämisch:
Hihi hihi Hoho hoho
Esther und Jakob rumvidibum
Ich lach mich schief – ich lach mich krumm, Zu komisch! Nein! Zu komisch!

2.
Zwei Kindlein – krausgelockt – selband Standen vorm Metzger Hand in Hand.
Der Metzger brüllt: Ich rat’s geschwind:
Du Jakob bist ein Judenkind!
Schaut her, ihr Leut! Da habt ihr Juda!
Die schwarze Esther
Ist die Schwester, Der schieche Jakob
Ist der Bruda..
Den prüf ich anatomisch!
Hihi hihi Hoho hoho
Der ganze Laden glotzte dumm
Und lacht sich schief – und lacht sich krumm, Zu komisch! Nein! Zu komisch!

3.
Zwei Kindlein beben, Hand in Hand, Vor Angst der Bruder – die Schwester vor Schand.
Ich – schrie der Metzger – schlacht Schwein und Rind, Ihr Juden schlachtet Christenkind!
Wenn ich euch nun den Garaus mache
Mit meinem Messer
Dir, schwarze Esther, Und deinem Bruder?
Rache an Juda…!

4.
Sein Schrei wuchs epidemisch, Juhu! Huhu! Hepphepp! Hepphepp!
Die ganze Straße schrie und lief
Den Kindern nach – und lacht sich schief, Zu komisch! Nein! Zu komisch!
Ein Judenmädchen legt Hand an sich, Den Grund zum Selbstmord, den kannt‘ man nicht.

Zwei Judenkinder Hand in Hand – da sind sicher Erinnerungsspuren aufgetaucht, die tief in die Kindheit führen. Jakob und Esther – Paul und Ida. Und in dem, was Walter Mehring den beiden krausgelockten Kindern moritatenhaft an Greueln zukommen läßt, spiegelt sich das Schicksal ihrer Schwestern, ihrer Mutter, ihrer Tochter, ihr eigenes. Kein Wunder, daß es ihr zunächst schwergefallen ist, diesen Text zu sprechen. Kein Wunder aber auch, daß sie ihn, als sie sich denn doch dazu entschließt, ihn anzunehmen, beispiellos mit eigenem Erleben und tiefer Empathie gleichermaßen füllen kann. Sie hat ihn dann noch öfter zum Klingen gebracht, innerhalb dieser Veranstaltungsreihe, die eng mit dem Namen und der Initiative Irmgard Schleiers verbunden ist: etwa an jenem großen Abend im Schauspielhaus, anläßlich des Tages, an dem sich das Ende des Krieges zum 40. Mal jährt, und der den Titel trägt: »Habt ein besseres Gedächtnis!« Ida Ehre und Irmgard Schleier – zwischen diesen beiden gleichermaßen eigenwilligen, gleichermaßen querdenkerischen Frauen, die ganz verschiedenen Generationen angehören, entwickelt sich über die gemeinsame Arbeit eine tiefe Freundschaft, ein profundes Verständnis für die Mißverständnisse, der die jeweils andere ausgesetzt ist, ein Verständnis für die künstlerischen Visionen, die sie hat. »Ich vermisse sie«, sagt Irmgard Schleier. »Ihre Unerbittlichkeit und Strenge, mit der sie – auch im Alltag – um die Mitteilung der Wahrheit rang, ihre Menschenkenntnis und Wärme, ihre Disziplin, ihren Humor und ihren Mut. Oft verspüre ich das Bedürfnis, sie anzurufen, sie um ihre Meinung zu fragen. Daß das nicht mehr möglich ist, macht mich traurig – noch immer.«

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin Verena Joos