Eva Mattes Hans Platschek Ausstellungseröffnung Camille Claudel Batig Kunstfoyer FESTIVAL DER FRAUEN 1990

Texte 2013 Eva Mattes: Viele Stimmen für den Frieden

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Und wir begehren nicht schuld daran zu sein

Viele Stimmen für den Frieden

Als Peter Zadek 1985 die Intendanz am Schauspielhaus übernahm, ging ich wieder nach Hamburg, um Mitglied in seinem Ensemble zu werden … . Mit Sack und Pack zog ich in eine große, schöne Wohnung in Eppendorf. Beim Andreasbrunnen hieß die Straße. Sie mündet in die Haynstraße, und da wohnten Irmgard und Peter. Familie für Hanna und für mich. Aber nicht nur Familie, denn mit den beiden verband mich auch eine gemeinsame künstlerisch-politische Arbeit.

Neben der Schauspielerei habe ich bis heute noch zwei weitere große künstlerische Leidenschaften: das Singen und die Rezitation von Gedichten und Texten. Beides eroberte ich mir erst, als ich schon längst im Theater und auf der Leinwand Erfolg hatte, meine Lust daran entdeckte ich aber bereits während der ersten Hamburger Wohngemeinschaftszeit mit Irmgard.

In den Siebzigern und Achtzigern gab es noch nicht diese Flut von Liederabenden in den Theatern, wie es sie heute gibt. Irmgard und ihr Lebens- und Arbeitspartner, der Autor und Produzent Peter Homann, waren sozusagen Pioniere. Und ich durfte von Anfang an dabei sein; ich sage »durfte«, weil ich mich zunächst noch schwer tat, als Sängerin aufzutreten und Texte vorzulesen, besonders Gedichte. Durch die Arbeit mit Peter und Irmgard habe ich das nach und nach gelernt.

Schon Mitte der 70er Jahre stand auf Irmgards Festen in der Papenhuder Straße das Singen oft im Mittelpunkt; auch meine Schauspielerkollegen, die viel und gerne mit uns feierten oder spontan auf einen Kaffee vorbeikamen, hatten Lust dazu, nicht nur ihre Gesangskünste auszuprobieren, sondern auch neue Genres und Repertoires zu entdecken, andere Rollen zu finden. Irmgards Kenntnisse, was vor allem Liederzyklen, Opern, musikalische Revuen anging, waren unerschöpflich, dazu kamen Chansons, Schlager von damals bis heute, die Comedian Harmonists, lange bevor sie so populär waren wie heute, Kurt Weill, Friedrich Hollaender, Paul Lincke … wir alle hatten unsere Lieblingssongs. Das Besondere war aber dann, dass Irmgard begann, über neue Aufführungsformen nachzudenken, die künstlerisch spannend und unterhaltend waren, aber zugleich mit den musikalischen auch gesellschaftliche Inhalte vermitteln wollten. Sie selbst hatte sich in ihrem Musikstudium intensiv damit auseinandergesetzt, welche Bedeutung und Wirkung künstlerische Arbeit in der Gegenwart hat oder haben könnte. Als Flüchtlingskind in der Nachkriegszeit aufgewachsen, sprach sie immer von der Kunst als »ihrem Grundnahrungsmittel, sogar Überlebensmittel«. Ihre Idee war, eine Praxis wieder aufleben zu lassen, die viele große Künstler in den zwanziger und dreißiger Jahren mit den gesellschaftspolitischen Bewegungen verbunden hatten. Ich wusste damals noch wenig von Brecht und Eisler, auch nicht von Hollaenders oder Mehrings großen zeitpolitischen Revuen.

In unsere Liederkreise mischten sich jedenfalls auch frühe politische Chansons aus allen Jahrhunderten, Volkskunst in vielen Sprachen aus ländlichen Regionen der Welt. Vieles davon singen wir bis heute. Irmgard sammelte alle Liederbücher, die damals zum ersten Mal zu diesen Themen erschienen, und suchte, was nicht in Büchern zu finden war, in Archiven. Mit Kollegen und ihren Studenten von der Hamburger Musikhochschule und der Universität gründete sie einen Chor mit Instrumentalensemble, den Hamburger Sängerhaufen, in dem auch ich anfänglich mitsang.

Das erste Projekt war eine Konzertwoche zum achtzigsten Geburtstag von Hanns Eisler. Es war das erste Mal, dass so etwas in Hamburg stattfand und das Schauspielhaus seine Bühne dafür öffnete. Das war 1978. Ein Jahr später stieß Peter Homann dazu, brachte sein immenses literarisches und historisches Wissen mit und gab dem Ganzen entscheidende Impulse; Irmgards und seine dramaturgischen Talente kamen zusammen, die musikalisch-literarische Revue war geboren. »Lieder, Texte, Zeitgeschichte« nannten sie diese Form, in der sich Chansons und Literatur, szenische Elemente, Modernes, Klassisches und Populäres bunt und gleichberechtigt mischten.

Unser erster gemeinsamer Abend, bei dem ich als Sängerin solistisch auftrat, hieß »Links-Rechts! Kennt ihr diese Töne?«, ein Programm über alten und neuen Faschismus, er hatte 1980 Premiere. Wir führten das Programm in der Christuskirche im Hamburger Schanzenviertel auf. Ich sang zum ersten Mal ein jiddisches Widerstandslied, »Shtil, die nacht is ojsgesternt«, von Hirsch Glik, einem Dichter, den Peter wiederentdeckt hatte, trug Gedichte von Ödon von Horvath, Walter Mehring und Johannes Bobrowski vor und spürte die Kraft, die von diesen Inhalten ausging.

In den darauffolgenden Jahren traten wir unzählige Male mit großen und kleineren Programmen dieser Art auf; diese Abende wurden die Keimzelle einer großen freien Produktionsgemeinschaft von Künstlern, die sich auf Irmgards und Peters Initiative immer wieder unterschiedlich zusammenfanden und sich später mehr und mehr auch kulturpolitisch gemeinsam engagierten.

Im Herbst 1986 bot mir das Goethe-Institut einen Abend in der Veranstaltungsreihe »Carte Blanche des comédiens allemands« mit deutschen Schauspielern an, in Strehlers Théâtre de l’Europe, dem Odéon, mitten in Paris, den Peter und Irmgard mir zusammenstellten.

»Von Ulm nach Metz, von Metz nach Mähren«, so hieß das Programm für Paris dann, nach einer Zeile aus der »Mutter Courage«, die ich gerade am Schauspielhaus spielte. Es war eine Revue mit Liedern und Texten für den Frieden, vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart. Wie immer in Peters und Irmgards Dramaturgie standen den bewegenden und auch kämpferischen Liedern und Texten, wie Kurt Tucholskys »Krieg dem Kriege« oder der jiddischen Hymne des Widerstands im Warschauer Ghetto, »Sog nischt kejnmol«, auch große Unterhaltungschansons bedeutender Dichter und Komponisten gegenüber, ebenso wie Lieder über die Liebe und den Alltag der Menschen. Hier habe ich Matthias Claudius und auch Heinrich Heine kennen- und lieben gelernt und durfte zum ersten Mal den großen Text von Mattthias Claudius “S’ist Krieg” sprechen.

Unser Abend war bei der Uraufführung im Januar 1987 am Odéon ein Riesenerfolg und blieb es viele Jahre, mit Vorstellungen im Schauspielhaus Hamburg, im Berliner Ensemble, in vielen anderen Theatern in Deutschland und sogar 1990 im Puschkin-Theater in Moskau. Es gibt auch eine Fernsehaufzeichnung des NDR von dem Abend. Freudig überrascht las ich dazu in Peter Rühmkorfs Erinnerungen, er habe im Fernsehen »ein Programm wie nicht von dieser Welt« gesehen – und hege das Zitat seither mit heimlichem Stolz als eines der schönsten Komplimente über unsere Arbeit.

Anfang der achtziger Jahre fing ich auch an, mich in der Friedensbewegung zu engagieren, wiederum mit Irmgard und Peter. Zur Zeit des Wettrüstens zwischen den beiden Supermächten war das ein Thema, das so gut wie jeden umtrieb.

Für den 1. September, den traditionellen Antikriegstag, organisierten Irmgard und Peter 1981 ein großes Programm für den Frieden, ähnlich den musikalisch-literarischen Theaterabenden, die sie schon auf die Bühne gebracht hatten. An dem Konzert im Audimax der Universität Hamburg nahm

unter anderem die jüdische Sängerin Esther Bejarano teil, die im Mädchenorchester von Auschwitz das Konzentrationslager überlebt hatte. Der Abend trug den Titel »Künstler für den Frieden«, und so nannte sich dann auch eine Initiative, die anschließend entstand und zu der sich schon bald sehr viele, auch sehr prominente Künstler bekannten.

Irmgard und Peter wurden nach diesem Konzert gefragt, ob sie für den »Krefelder Appell« ein Programm organisieren könnten, das im November 1981 in der Dortmunder Westfalenhalle aufgeführt werden sollte. Der Krefelder Appell war eine Friedensinitiative, der unter anderem Gert Bastian und Petra Kelly als Initiatoren angehörten und die sich mit Unterschriftensammlungen gegen eine neue Raketenstationierung engagierte. Von einer Unterstützung durch die Künstler erhoffte man sich eine noch breitere Wirkung und mehr politischen Nachdruck für die Friedensappelle. Wir wollten uns gemeinsam dafür engagieren. Irmgard und Peter begannen, mehr oder weniger aus ihrem Wohnzimmer in Eppendorf, das Konzert vorzubereiten. Ich half, wo ich konnte, und versuchte, Kollegen zum Mitmachen zu bewegen.

An die dreihundert Künstler erhoben schließlich in der Dortmunder Westfalenhalle vor fünfundzwanzigtausend Zuhörern in Liedern und Texten ihre Stimme gegen den Atomtod. Angela Winkler, Donata Höffer, Esther Bejarano und ich sangen gemeinsam jiddische Lieder; Hanna Schygulla, die Irmgard und mich früher ein paar Mal in unserer Hamburger Wohngemeinschaft besucht und lange Küchenabende mit uns verbracht hatte, sang ihre eigene Umtextung von »Lili Marleen«; Udo Lindenberg dichtete ironisch »Und die Rüstungsindustriellen sind in Bombenstimmung auf den Seychellen«; Klaus Hoffmann und André Heller waren besonders angetan von einem riesigen Friedenschor, zu dem sich unter Irmgards Leitung mehrere Chöre zusammengetan hatten, darunter neben dem Hamburger Sängerhaufen auch der Westberliner Hanns Eisler Chor, mit dem unsere Kollegin Maren Kroymann damals als Solistin auftrat, und der Türkische Arbeiterchor Westberlin unter der Leitung von Tahsin Incirci. Letzterer hatte ein Gedicht von Nazim Hikmet über ein kleines totes Mädchen in Hiroshima vertont, und ich nahm allen Mut zusammen und sang es allein auf Türkisch vor dem Riesenpublikum, das gebannt lauschte. Anne Bennent brachte ein Gedicht von Marius Müller-Westernhagen als Grußbotschaft mit, ihr sechzehnjähriger Bruder David sprach mit dem Münchner Kabarettisten Helmut Ruge Karl Valentins Szene »Du, Vata, gell, der Krieg is was Gefährliches«. Franz Josef Degenhardt sang von den Edelweißpiraten, Curt Bois rezitierte eindringlich Brechts Friedensmahnung »An meine Landsleute«, und Heinz Schubert, der wie Curt Bois noch mit Brecht gearbeitet hatte und der in der Rolle des Ekel Alfred damals ein populärer Fernsehheld war, sprach das Gedicht vom »großen Karthago«, das nach dem dritten Krieg nicht mehr auffindbar war. Dietmar Schönherr trug unseren Künstleraufruf vor, der mit den Worten schloss: »Die größte Kunst auf dieser Welt ist der Frieden.« Und schließlich sang Harry Belafonte mit großer Band. Er hielt eine Ansprache an das Publikum, sang sie im Stil von Martin Luther King in den Saal, und man merkte, dass er wusste, wovon er sprach.

So viele Jahrzehnte nach dem Krieg war es in Deutschland immer noch neu zu erleben, dass ein Künstler, der so unerhört berühmt war und bewundert wurde, zugleich so authentisch, politisch klug und weitblickend sein konnte. Er wurde später ein enger Verbündeter und für Irmgard und Peter ein wirklicher Freund. Bei uns gab es solche Vorbilder einfach nicht, fast nicht, deswegen bin ich auch dankbar, Curt Bois und später Ida Ehre, die natürlich beide Ausnahmen waren, in diesem Zusammenhang kennengelernt zu haben.

Das Konzert war eine unglaubliche Anstrengung, besonders für Irmgard und Peter, die auf und hinter der Bühne alles zusammenhielten, und ein geradezu raketenhafter Erfolg.

Alle Beteiligten wollten weitermachen, meine Kollegen vom Theater sowieso, aber auch Künstler, die groß im Plattengeschäft waren und ein so begeistertes Publikum nur selten erlebt hatten. Noch am Abend hatte der Erfolg viele selbst ernannte Väter und Mütter, nur die beiden, denen diese Auszeichnung wirklich zugestanden hätte, wurden nicht einmal im Programmheft der KrefelderInitiative aufgeführt – kein Versehen, wie sich später zeigte.

André Heller war voller Anerkennung für das, was wir auf die Beine gestellt hatten, und wurde zu einem engagierten Mitstreiter; zur Planung eines nächsten großen Konzertes kam er sogar eigens nach Hamburg, zu uns nach Eppendorf. Wir wollten diesmal noch mehr Künstler einbeziehen und in eigener Regie ein internationales Programm, eine Art Dramaturgie der »Kunst des Friedens« entwerfen.

Das wurde uns allerdings nicht leicht gemacht. Der Glanz und die Power der Künstler hatten dem Krefelder Appell eine große Öffentlichkeit verschafft, dass diese Wirkung allein durch die Künstler hervorgebracht wurde, konnten und wollten einige im Hintergrund jedoch nicht dulden. Sie fürchteten um ihren politischen Einfluss in der Friedensbewegung, wenn sie nicht in allem ihre Richtung vorgeben und durchsetzen konnten. Dabei fühlten sich viele Künstler von unserer Friedensinitiative ja gerade deshalb angezogen, weil wir unabhängig und unter künstlerischen Vorzeichen dachten. Das nahm ihnen die nicht unberechtigte Angst, politisch vereinnahmt zu werden. Dass wir unsere künstlerische und politische Unabhängigkeit schützen wollten, wurde als abweichend bekämpft. So ging also hinter den Kulissen ein zähes Ringen los, als wir begannen, das Konzert »Künstler für den Frieden« vorzubereiten, das im September 1982 im Bochumer Ruhrstadion stattfinden sollte. Einige politische Drahtzieher versuchten, einen Keil zwischen Initiatoren und Initiative zu treiben, aber wir waren eine starke Künstlergemeinschaft und hielten zusammen.

Der Erfolg gab uns recht: Überwältigende zweihundertfünfzigtausend Besucher strömten ins Ruhrstadion. Damit hatte niemand gerechnet. Es war ein riesiges Treffen der Friedensbewegung, und auch die engagierte Künstlerszene versammelte sich dort. Theaterleute von der Deutschen Oper Berlin und von Peymanns Bochumer Ensemble, Songgruppen, Liedermacher und internationale Gäste, alle traten erst auf den acht kleineren Bühnen auf, bevor auf der großen Stadionbühne eine unvergessliche Konzertnacht begann. Dietmar Schönherr war wieder dabei, ebenso wie Katja Ebstein und Konstantin Wecker, ein großer Friedenschor sang »Va pensièro« aus Verdis Nabucco, und Miriam Makeba, die große Sängerin der südafrikanischen Bürgerrechtsbewegung, war zusammen mit Harry Belafonte Stargast des Konzerts. Sie sorgte übrigens auch für einen bei aller Anspannung heiteren Moment im Vorfeld: Einer ihrer Koffer glich dem von Helmut Ruge, sie wurden am Flughafen verwechselt, und als der Münchner Kabarettist seinen Anzug für den Vorabendempfang auspacken wollte, rauschte Miriam Makebas opulenter Bühnenflitter auf sein Hotelbett.

Harry Belafonte brachte ein eigens für die Friedensbewegung komponiertes Lied mit. Er und seine Frau Julie, die mit ihm nach Bochum gekommen war, hatten ein wichtiges Anliegen, das sie mit Irmgard als Initiatorin von »Künstler für den Frieden« diskutieren wollten. Das Ehepaar Belafonte engagierte sich in den USA in P.A.N.D. (Performers and Artists for Nuclear Disarmament), einer Friedensorganisation, für die sie nun internationale Bündnispartner suchten. Sie waren von der Hoffnung erfüllt, dass man in diesem historischen Augenblick, in dem so viele Menschen in Westeuropa und vor allem in Westdeutschland, an der Grenze zum Eisernen Vorhang, jeden Tag zeigten, dass sie den Kalten Krieg beenden wollten, mit Künstlern aus Ost und West gemeinsam eine Brücke des Friedens bauen könnte.

Belafonte wollte ein Konzert veranstalten, bei dem zum ersten Mal Künstler aus allen Ländern der Anti-Hitler-Koalition gemeinsam für den Frieden auf der Bühne stehen sollten, und dieses Konzert fand dann tatsächlich am 3. und 4. September 1983 vor fünfzigtausend Zuhörern im Hamburger St. Pauli- Stadion statt. Zuvor waren Vertreter von P.A.N.D. International – Harry Belafonte für die USA, Bibi Andersson für Schweden, Irmgard für »Künstler für den Frieden« sowie Vertreter einiger anderer europäischer Initiativen – zu Künstlerverbänden nach Moskau gereist, um dort für eine Mitwirkung sowjetischer Künstler zu werben. Obwohl ein direkter Kontakt zu Künstlern in Moskau damals noch schwierig, ja fast unmöglich war, kam es dazu, dass zum fünfzigsten Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs tatsächlich eine Delegation russischer Künstler nach Hamburg entsandt wurde. Neben den internationalen Künstlern waren vor allem Schauspieler aller Hamburger Theater dabei, außerdem Friedrich Schütter, der Intendant des Ernst Deutsch Theaters, Ida Ehre, die Prinzipalin der Kammerspiele, und Peter Rühmkorf, der über den rauschenden Regen hinweg laut seine eigenen, für diese Gelegenheit entstandenen Strophen »Bleib erschütterbar und widersteh« rief. Ida Ehre rezitierte, nein, schleuderte Wolfgang Borcherts »Sag Nein« dem Sturm und dem Publikum entgegen, ein unvergesslicher Eindruck für mich.

Für dieses Konzert hatte ich auch den Versuch unternommen, Marlene Dietrich zu gewinnen. Durch einen Freund meiner Mutter, Peter Kors, der dann und wann lange nächtliche Telefonate mit ihr führte, bekam ich ihre Nummer. Eines Abends, während einer Produktionsbesprechung, an der auch der Maler Hans Platschek teilnahm, rief ich sie von Irmgards Wohnung aus an. Ich stellte mich vor, und sie antwortete mit ihrer tiefen, unverkennbaren Stimme, sie sei ihr Dienstmädchen. Zum Glück hatte mich Peter Kors vorgewarnt – bei ihm hatte sie das anfangs auch gemacht –, und so sprach ich, obwohl ich wahnsinnig aufgeregt war, einfach weiter, nicht sicher, ob das Ganze nicht doch ein Traum war. Ich erzählte ihr von der Friedensbewegung, von unserer Hoffnung, durch unser Engagement mit dazu beizutragen, dass das Wettrüsten beendet wurde. Sie sagte, sie betrete keine Bühne mehr. Ich weiß, antwortete ich, aber vielleicht doch noch dieses eine Mal, eine große Ausnahme. »Sag mir, wo die Blumen sind.« Übergangslos sprach sie plötzlich Französisch. Ich gab den Hörer weiter an Hans Platschek, der neben mir stand und das Gespräch verfolgt hatte. Er war unglaublich charmant und auch im Französischen sehr redegewandt. Einen Augenblick sprach sie noch mit ihm, verabschiedete sich dann jedoch und hängte ein. Ich schickte ihr trotzdem eine Schallplatte mit dem Live-Konzert von Dortmund und einen kleinen Brief, in dem ich mich für das Gespräch bedankte. Ein paar Tage später kam das Päckchen zurück, mit überklebtem Etikett, auf dem nun in ihrer Handschrift meine Adresse stand. Innen drin ein Blatt Papier, auf dem mit Schreibmaschine getippt war: Mrs. Dietrich no longer lives in Paris. Unter dem Tesafilm, mit dem sie das Etikett befestigt hatte, klebten zwei weiße, lange Haare.

Die Tage während und nach den beiden Konzerten, als so viele Kollegen aus Ost und West in Hamburg anwesend waren, nutzten wir zur Diskussion und Gründung von P.A.N.D. International. Auch die Stadt Hamburg unterstützte diese Idee offiziell. Die Kultursenatorin Helga Schuchardt hatte angeboten, Hamburg zum Sitz einer solchen internationalen Friedensnitiative der Künstler zu machen. Wir konnten uns also im schönen und gediegenen alten Konzertsaal der Hamburger Musikhochschule treffen. Unter uns Künstlern waren die Dialogbereitschaft und der Enthusiasmus sehr groß, aber die politische Engstirnigkeit, die wir schon nach dem ersten Konzert in Dortmund kennengelernt hatten, machte sich wieder bemerkbar. Die DDR-orientierten Vertreter der politisch organisierten Friedensbewegung versuchten, den unabhängigen Dialog der Künstler zu torpedieren, das ließ sich nicht einmal aus dieser Diskussion heraushalten, die engagiert von Harry Belafonte geleitet wurde, den man wegen seiner Klugheit und Besonnenheit nur bewundern konnte.

Die Hamburger Konzerte und die Zeit danach waren ein großes emotionales Erlebnis für uns alle. Mit vielen unserer Mitstreiter verband uns inzwischen eine Freundschaft. Den Maler und Autor Hans Platschek, als Jude in der Emigration in Uruguay aufgewachsen, ein kluger und witziger Mann, traf ich oft in der Haynstraße. Er hatte zusammen mit Peter eine Posterserie für P.A.N.D. International

herausgegeben, zu der unter anderem K.R.H. Sonderborg, Antoni Tàpies, R.B. Kitaj, Constant und Renato Guttuso Motive und persönliche Friedensstatements beigesteuert hatten. Auch den Lyriker Peter Rühmkorf und seine Frau Eva sahen wir nun öfter. Zum engeren Kreis gehörten außerdem der Opernstar Hanna Schwarz, der Musiker Claus Bantzer, Peter Rühmkorfs langjähriger Künstlerfreund, der Pianist und Chef der NDR-Jazzredaktion Michael Naura, und mein Schauspielkollege Stephan Stroux.

P.A.N.D. International konnte sich letztlich nicht als große Ost-West-Initiative etablieren, aber wir setzten unser Engagement für den Frieden in Hamburg fort, mit Konzerten, Lesungen und anderen Bühnenereignissen. Zwei Hamburger P. A. N.D-Konzerte gehören zu meinen wichtigsten Erinnerungen, die beiden Abende »Widersteht, im Siegen Ungeübte« zum Jahrestag 30. Januar 1984 in der Kampnagelfabrik und »Allein ist nicht genug« zum 1. Mai 1984 in der Musikhalle. Beide trugen ihren Titel nach Gedichten von Peter Rühmkorf, der mit seinem »Jazz und Lyrik«-Trio auch mit auf der Bühne stand.

Als ich Anfang 1985 nach Hamburg zog, hatte ich weiß Gott im Theater genug zu tun, trotzdem war ich froh, jetzt öfter bei den Treffen der Künstlerinitiative dabei sein zu können. Die Diskussionen waren intensiv und inspirierend, und zwischendurch wurde spontan am Flügel gesungen. Wenn wir uns nicht bei Irmgard und Peter in der Haynstraße trafen, saßen wir um die Ecke im Il Posto, breiteten uns und unsere Unterlagen ungeniert an den langen Tischen aus und holten so etwas wie die Kaffeehaus-Arbeitsstimmung der zwanziger Jahre ins hanseatische Heute.

Arbeit gab es genug: Zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 wollte der Hamburger Senat mit dem Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und der Kultursenatorin Helga Schuchardt ein friedenspolitisches Zeichen setzen. Die Stadt hatte den Künstler Alfred Hrdlicka beauftragt, ein Gegendenkmal zum »76er Denkmal« – dem Kriegerdenkmal aus der Nazizeit auf dem Hamburger Stephansplatz – zu entwerfen, das an die Zerstörung der Stadt in den Bombennächten 1943 erinnern sollte. Und zum ersten Mal lud die Stadt Hamburg die Überlebenden des Konzentrationslagers Neuengamme, die Mitglieder der »Amicale Internationale de Neuengamme«, offiziell ins Rathaus ein, wo ihnen zu Ehren ein künstlerisches Programm auf die Bühne gebracht werden sollte. Irmgard und Peter wurden beauftragt, dieses Programm zum Gedenken an den antifaschistischen Widerstand in Europa zusammenzustellen, und es wurde eine große Aktionswoche daraus, die Veranstaltungsserie »Habt ein besseres Gedächtnis« zum vierzigsten Jahrestag des 8. Mai 1945.

Peter Rühmkorf schrieb gemeinsam mit Peter Homann einen aufrüttelnden Aufruf: »Am 8. Mai 1945 fand der Traum von der deutschen Weltherrschaft ein klägliches Ende. Viele Deutsche hatten ihn mitgeträumt, die meisten ihm blindlings vertraut, die wenigsten sich seine Folgen ausgemalt – jetzt wollte auf einmal niemand davon gewusst haben. Am 8. Mai 1985 erinnern wir uns der Befreiung von Unterdrückung und Lüge, aber auch an den Schlaf der Vernunft, der solche Ungeheuer gebiert. Dass wir deutsche Politiker heute schon wieder von militärischer Vorherrschaft träumen sehen – auch von der Teilhabe der Herrschaft im Weltenraum –, erfüllt uns mit Grauen. Wir alle sehen, was um uns herum geschieht, und können die Konsequenzen abschätzen. Die Unsicherheit der neuen Sicherheitssysteme ist uns zur Genüge bekannt, und wir wollen sie von uns abwenden. PAND, die Künstler für Frieden und Abrüstung, rufen alle Mitbürger auf, sich an den öffentlichen Wahnsinn nicht erst gewöhnen zu lassen. Erinnert Euch an die Zeiten der braunen Verblendung. Misstraut all jenen, die den Frieden herbeirüsten wollen. Habt ein besseres Gedächtnis.«

Diese Worte schrieb ich schrieb ich zusammen mit Irmgard am 8. Mai 1985, auf eine weiße Litfasssäule am Stephansplatz, am selben Tag, an dem dort Alfred Hrdlickas Bronzeskulptur »Hamburger Feuersturm« eingeweiht wurde.