Hammoniale 1993 Kurs NordNordOst Das Baltikum

Festivals 1993 Hammoniale 1993 Festival der Frauen

Programm Künstlerische Leitung Peter Homann
Zusammen mit Caroline Rehberg, Aila Gothoni

Editorial

Im Mittelpunkt der HAMMONIALE ’93 steht der Beitrag der baltischen Länder zur europäischen Kultur. Eine bedeutende Kulturlandschaft – ihre Kenntnis war selbstverständlicher Bestandteil des Bildungschatzes früherer Generationen – war durch den Eisernen Vorhang verdeckt und seit der Unabhängigkeit nach Europa zurückgekehrt.

Reval/Tallinn, Riga, Wilna/Vilnius waren seit Jahrhunderten Zentren des europaischen Handels, hier kreuzten sich die Wege von West nach Ost, von Nord nach Süd. Das Baltikum war, wie der estische Schriftsteller Jaan Kross es sagt, die – Brücke zwischen Skandinavier und Arabern, zwischen dem am Wesen interessierten Osten und dem am Osten interessierten Europa.

Jahrhundertelang waren Städte und Länder des Baltikums fremder Herrschaft unterworfen. In den Städten mischten sich die Kulturen europäischer Großmächte, der Skandinavier, Deutschen, Russen, Polen – dazu kam, besonders in Riga und Vilnius, dem einstigen “Jerusalem des Nordens”, ein ehemals bedeutender Anteil osteuropäischer jüdischer Kultur. In den Landschaften rund um die Ostsee, seit Jahrtausenden von einer Vielzahl kleiner Volksstämme von Bauern und Fischern besiedelt, überlebten Traditionen, Epen, Gesänge und Mythen aus vorchristlicher Zeit.

Die jüdische Bevolkerung und ihre Kultur wurden fast vollständig ausgelöscht, und in der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts wuchs die Gefahr, das auch die Kulturen der “Forgotten Peoples” untergehen. Für die baltischen Künstler sind sie bis heute eine Quelle der Inspiration für Musik, Dichtung, Malerei, die gleichberechtigt mit den christlichen und westeuropäischen Traditionen den Reichtum ihrer Kunst ausmacht.

In der politischen Isolation, fern von Europa, hat sich dieser kulturelle Reichtum erhalten, und trotz der Fremdherrschaft haben bis zur “Singenden Revolution” viele Menschen von seiner utopischen Kraft gelebt.

Der neu begonnene kulturelle Dialog mit Estland, Lettland und Litauen kann gerade in dieser Zeit, in der die staatliche Unabhängigkeit dieser Länder mit Aussicht auf Dauer errungen ist, dazu beitragen, unseren Horizont eines friedlichen “Europa der Regionen” zu erweitern.

Vor allem aber soll deutlich werden, daß mit den Veränderungen in Osteuropa auch wir im europäischen Westen aufgefordert sind, unsere Positionen neu zu bestimmen. Der Osten wird westlicher und die Mitte Europas wird östlicher werden.

Ein weiterer Schwerpunkt der HAMMONIALE ’93: die Kultur der Roma und Cinti mit ihrer Musik und ihren Mythen, ein Volk, das in Europa heimlich bewundert und oft genug ottentlich verfolgt wurde, das immer wieder im Verborgenen leben mußte und wie kein anderes ein “Europa ohne Grenzen” leben will.

Im Abschlußkonzert der HAMMONIALE ’93 am 1. Oktober in der Hauptkirche St. Michaelis unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten klinge noch einmal ein Leitmotiv des Festivals an: die Kunst als Gedächtnis der Völker erfahrbar zu machen. Die 13. Sinfonie “Babi Jar” von Schostakowitsch erinnert an den Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, an den ethnischen Sauberkeitswahn und die braune Verblendung, die zur großen Tragödie dieses Jahrhunderts führten.

In der Hamburger Erstaufführung musizieren gemeinsam das Litauische Kammerorchester, die Camerata St. Petersburg, der Estnische Nationale Männerchor und der finnische Baßbariton Tom Krause unter der Leitung von Maxim Schostakowitsch.

HAMMONIALE – Festival der Frauen e.V.

Kurs NordNordOst Das Baltikum

16. September – 2. Oktober 1993

Wir gehen Wege ohne Grenzen

Gipsies, Cinti, Manouches, Roma
16. September – 2. Oktober 1993

Hammoniale 1993 Wir gehen Wege ohne Grenzen Gipsies, Cinti, Manouches, Roma
Hammoniale 1993 Wir gehen Wege ohne Grenzen Gipsies, Cinti, Manouches, Roma

Bürgerrechtsbewegung im Land
der Täter und Opfer

Von Markus Rosenberg

Erst seit wenigen Jahren hat sich in der Offentlichkeit die Bezeichnung Cinti und Roma durchgesetzt, für die bisher – aus Unkenntnis – die Bezeichnung »Zigeuner« üblich war. Die meisten Angehörigen unserer Volksgruppe lehnen das Wort »Zigeuner« ab, ursächlich wegen des diskriminierenden Umgangs in der Vergangenheit.

Über den Ursprung des Wortes gibt es verschiedene Theorien. So konnte es von dem byzantinischen »atcinganoi« stammen, der Be-Zeichnung fur Unberührbare. Andere führen den Namen »cigani« auf die gnostische Sekte der Atsingani oder Athinganoi zurück, von denen man annimmt. dais sie mit den Cinti und Roma in Verbindung kamen. Von diesen Namen werden fast alle heute gebräuchlichen Bezeichnungen abgeleitet: Cigani (slawisch), Zingari (italienisch), Tsiganes (französisch), Cingeneler (türkisch), cingarus (lateinisch). Das englische »gipsies« und das spanische »gitanos« hat seinen Ursprung darin, dais sich viele Cinti und Roma einmal als Ägypter bezeichneten.

ROM, das Wort für Mensch und Mann, weiblich Romni, Plural Roma. stammt aus dem Romani bzw. Romanes, der Sprache unseres Volkes. Der größte Teil unserer im deutschsprachigen Mitteleuropa lebenden Volksgruppe bezeichnet sich selbst als Cinti. Dieser Name leitet sich von »Sindhu« ab, einen Hauptstrom in Nordwestindien. Unser Volk stammt ursprünglich aus dem Punjab, dem heutigen Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien.

Infolge der Kriege und Feldzüge arabischer Herrscher wanderten vom 9. Jahrhundert an Cinti- und Roma-Gruppen nach Kleinasien und Europa. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts leben sie im deutschen Sprachraum.

Trotz der jahrhundertelangen Verfolgungen und Diskriminierungen, trotz des Völkermordes im »Dritten Reich«, dem im NS-besetzten Europa über 500.000 Angehörige unseres Volkes zum Opfer fielen, sind wir selbstverständlich
Bürger unseres jeweiligen Staates und unserer Heimat ebenso verbunden wie die Mehrheitsbevölkerung.

Trotz der im Zuge einer langen Geschichte längst vollzogenen Integration in die jeweiligen Gesellschaften erhielt sich die kulturelle Eigenständigkeit der Cinti und Roma. Unsere Sprache, das Romani oder Romanes, bewahrt – obwohl schrittlos – bis heute die Struktur des Sanskrit und zahlt so zu einer der ältesten noch heute gesprochenen Kultursprachen in Europa.

Der Völkermord an unserer Volksgruppe, den Himmler und die NS-Politik anordneten und exekutierten, blieb nach dem Ende des »Dritten Reiches« lange unbekannt. Wahrend man sich in Deutschland und Europa bemühte, die NS-Verbrechen und den am jüdischen Volk begangenen Holocaust in der Öffentlichkeit bekanntzumachen, wurde das tragische Schicksal der Cinti und Roma bis 1979 unterschlagen – Diskriminierung und Verfolgung wurden sogar jahrelang fortgesetzt. Um dies endlich ins Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit rücken zu können, bedurfte es eines Generationswechsels und eines neuen Verantwortungsbewußtseins im Lande der Täter und Opfer.

Die Überlebenden waren zu alt, zu krank oder zu resigniert, um sich gegen die Fortsetzung von Diskriminierung und Verfolgung zur Wehr setzen zu können. Die Nachkriegsgeneration der Cinti und Roma fand einen neuen Weg. Sie übernahm die Strategien der internationalen Menschenrechtsbewegungen gegen Rassismus und Diskriminierung.

Jahrhundertelang hatten Cinti und Roma in aller Welt Unrecht und Verfolgung erlitten. Unsere Geschichte war nicht, wie manche auch heute noch meinen, die Geschichte eines romantischen »Wandertriebes«, sondern die einer Flucht vor Verfolgung und Elend. Heute, in einer lückenlos organisierten und total verwalteten Welt, wissen wir, daß es nur eine Möglichkeit gibt, um als Volksgruppe mit eigener Sprache, Tradition und Kultur zu überleben: die Wahrnehmung der politischen Grund- und Bürgerrechte, die politische Mitsprache und die Forderung nach Minderheitenrechten. Nur so kann die Zerstörung einer jahrhundertealten Kultur noch aufgehalten werden.

Markus Rosenberg ist Geschäftsführer der Cinti-Union Berlin und Vorstandsmitglied des Dokumentations- und Kulturzentrums Heidelberg